Mythos und Moderne
Mythos und Moderne – ein Gegensatzpaar voller Brisanz und ästhetischem Reiz! Denn die Moderne hat scheinbar mit den Mythen gründlich aufgeräumt, hat rationale Erkenntnis, logisches Kalkül und nüchtern empirische Überprüfbarkeit zur Grundlage ihres Weltbildes gemacht. Die Idee linearen Fortschritts bestimmt die Geschichte und lässt mythische Erzählungen als Wurzel eigenen Selbstverständnisses im wahrsten Sinne „alt aussehen“. Gerade die Erfahrung der beiden Weltkriege beförderte im 20. Jahrhundert eine dezidiert anti-metaphysische Haltung in Kunst und Wissenschaft: Neue Sachlichkeit, Neopositivismus, Konstruktivismus, Serialismus, Konkrete Poesie sind nur einige Spielarten dieser Bewegung. Ihnen gemein ist die Beschränkung auf die Eindeutigkeit erfahrbarer Tatsachen. Der Ton und das Motiv in der Musik werden allein als Strukturbeziehungen aufgefasst, jeder tiefere, womöglich unaussprechliche Sinn ausgeklammert, denn „was sich überhaupt sagen lässt, das kann man klar sagen“ (Wittgenstein). - Doch das rationale Weltbild zeigte bald Risse. Ob nun Kurt Gödel in der Logik die Unmöglichkeit vollständiger rationaler Begründung aufwies oder Thomas Mann seinen Reihen-Komponisten Adrian Leverkühn tief mythologisch als Doktor Faustus tituliert: Es ist die Vernunft in ihrer reinsten Ausprägung, die in ihr Gegenteil umzuschlagen scheint. Und die literarische Fiktion Thomas Manns wird spätestens im Werk des Serialisten Stockhausen Wirklichkeit, ein Künstler, der sich im Entwickeln musikalisch-mathematischer Formeln immer mehr in einen bizarren Mythos verwickelt.
Natürlich gab es zu allen Zeiten auch Gegenströmungen. Die tiefe Religiosität und Naturverehrung in der Musik eines Olivier Messiaen lebte vom Rekurs auf Mythen: sein „heiliger Berg“ in den Dauphiné-Alpen, sein tiefes Eindringen in die indische Mythologie, Vogelstimmen, die bisweilen die Abgründe der Seele erahnen lassen... Erst in den 1960er Jahren aber begann eine breitere Kunstbewegung, die sich von der Klarheit rationaler Formeln verabschiedete. Die geheimnisvoll-irisierenden Klangflächen eines György Ligeti, die Archaik in der Musik Pendereckis, das kulturgeschichtliche Panorama Crumbs (in mancher Hinsicht Bernd Alois Zimmermanns Ansätze weiterdenkend), das Ausloten der Stille im Spätwerk Nonos – das waren Boten einer neuen Ästhetik, die von der minimal-music („Koyaanisqatsi“) bis hin zur Rockmusik reichte (man denke an die ausladenden Akkordflächen in Pink Floyds „Shine on you crazy diamond“). Insbesondere die elektronische Musik und ihre akustisch-instrumentale Rückübertragung (etwa als "Music concrète instrumental") vermittelten eine Aura geheimnisumwitterter Klangwelten. Ähnliche Prozesse wie in der Musik kennzeichnen auch die Literatur, Bildende Kunst und Architektur seit jener Zeit.
Jean-Luc Darbellay: Mythos | |
Jean-Luc Darbellay: ...bei einem Engel irgend | |
Valerio Sannicandro: silvae | |
Benjamin Schweitzer: Sumpfgesang | |
Jörg-Peter Mittmann: Lamento | |
Salvatore Sciarrino: Lo spazio inverso | |
Younghi Pagh-Paan: Rast in einem alten Kloster | |
Giacinto Scelsi: Ko-Lho | |
George Crumb: Black Angels | |
Arvo Pärt: Es sang vor langen Jahren... | |
Werke von Roberto Reale, Rami Chahin, Giovanni Bataloni, Miro Dobrowolny u.a. |